Man macht sich nicht nur ein Bild von einer anderen Person, sondern auch von sich selbst, besonders in Beziehung zu jemandem, mit dem man sich gerade befasst. Nicht man selbst ist es folglich, der mit der betreffenden Person in eine Beziehung tritt, sondern derjenige, der man zu sein glaubt mit demjenigen, wofür man den anderen hält, und umgekehrt.
Das Bild, das man sich im Geiste von sich selbst gemacht hat, tritt in eine Wechselbeziehung zu seiner eigenen Schöpfung, dem Bild, das es sich von der anderen Person gemacht hat. Und die andere Person hat vermutlich das Gleiche getan, sodass jede Interaktion von Mensch zu Mensch in Wirklichkeit eine Beziehung zwischen vier erdachten Identitäten ist, die letztlich reine Fiktion sind. Darum verwundert es nicht, das zwischenmenschliche Beziehungen so konfliktbeladen sind.
Es gibt in dem Sinne also keine wahre Beziehung.
Die Verhaltensmuster, auf die man bei anderen am stärksten reagiert und die man als deren Identität wahrnimmt, sind die gleichen Muster, die auch in uns selbst sind, nur dass wir unfähig oder unwillens sind, sie in uns selbst aufzuspüren.
Was stört und ärgert dich denn bei anderen am meisten? Ihre Selbstsucht? Ihre Gier? Ihr Hunger nach Macht und Kontrolle? Ihre Unaufrichtigkeit und Unehrlichkeit, ihr Hang zur Gewalt, oder was sonst?
Alles, was du anderen übel nimmst und worauf du heftig reagierst, ist auch in dir selbst.
Je stärker das Ego in dir ist, umso wahrscheinlicher ist es, dass in deiner Wahrnehmung anderer Menschen die Hauptursache deiner Probleme im Leben darstellen. Zugleich ist es sehr wahrscheinlich, dass du anderen das Leben schwer machst. Das siehst du jedoch nicht. Es sind immer die anderen, die dir das antun.
Egal, was du sagst oder tust oder welches Gesicht du der Welt zeigst, dein mental-emotionaler Zustand bleibt nicht verborgen.
Jeder Mensch strahlt ein Energiefeld aus, das seiner inneren Verfassung entspricht und das die meisten Menschen spüren können, wenn auch vielleicht nur unterbewusst.
Das heißt, sie wissen nicht, dass sie es spüren, doch es bestimmt in hohem Maße, welche Gefühle und Reaktionen die betreffende Person bei ihnen auslöst. Manche Leute sind sich seiner jedoch gleich bei der ersten Begegnung mit jemandem vollkommen bewusst, noch bevor später Worte gewechselt wurden.
Wenig später bestimmen dann allerdings Worte die Beziehung, und den Worten folgen Rollen, die die meisten Menschen spielen.
Jetzt richtet sich das Augenmerk aufs Denken, und sogleich nimmt die Fähigkeit, das Energiefeld des anderen zu spüren, stark ab. Unbewusst wird es aber trotzdem noch empfunden.
Wenn der Gedanke, dass etwas fehlt, sei es Geld, Anerkennung oder Liebe-, Teil deines Selbstgefühls ist, wirst du immer Mangel leiden.
Statt das Gute zu sehen, das dein Leben dir bereits bietet, siehst du nur Mangel. Die Anerkennung des Guten, das schon in deinem Leben ist, ist Grundlage jeder Fülle.
Tatsache ist: Was immer die Welt dir deines Erachtens vorenthält, enthältst du der Welt vor. Du enthältst es ihr vor, weil du dich im tiefsten Innern für so unbedeutend hältst, dass du meinst, nichts geben zu können.
Probier mal anderen das zu geben, was sie deiner Überzeugung nach dir vorenthalten: Lob, Anerkennung, Beistand, liebevolle Zuwendung usw.
Das kannst du nicht geben? Tu einfach so, als könntest du es, und es wird dir zufließen.
Bald nachdem du zu geben begonnen hast, wirst du empfangen.
Du kannst nicht empfangen, was du nicht gibst.
Was hinausgeht, bestimmt, was hereinkommt.
Was immer die Welt dir deiner Auffassung nach vorenthält, das hast du bereits, aber wenn du nichts
davon hinausgibst, weisst du nicht einmal, das du es hast.
„ Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.“
© aus „Eine neue Erde“ von Eckhart Tolle